Zur Rolle der Kultur des Teilens
Digitalität, “Kultur der Digitalität” und die Kultur des Teilens
Wenn man den Begriff der Digitalität vom Vordenker des Digitalitätsbegriffs Felix Stalder übernimmt, ist die übliche Lesart stark kontextualisiert: Bei Stalder bilden Digitalität und die “Kultur der Digitalität” nahezu eine Einheit. Diese Verknüpfung ist aber keine notwendige.
Ambivalenz der Digitalität
Die Möglichkeiten der Digitalität, des digitalen kommunikativen Handelns, können sehr unterschiedlich genutzt werden. Wir können das Digitale zur Kontrolle von Menschen benutzen oder auf Freiwilligkeit, Transparenz und Vertrauen setzen. Wie stark dieser Kontrast sein kann, habe ich kürzlich für Prüfungsformate veranschaulicht (hier und hier).
Digitalität kann sich nicht dagegen versperren, dass aus ihren Möglichkeiten das eine oder das andere gemacht wird. Und diese Ambivalenz der Digitalität betrifft so gut wie alle der zahlreichen Möglichkeiten des Digitalen. Viele Merkmale der “Kultur der Digitalität”, wie sie von Stalder beschrieben wurde, sind leider keine Merkmale der Digitalität selbst. Die “Kultur der Digitalität” liegt nicht im Wesen der Digitalität, sondern entsteht durch die gemeinsame Orientierung von Menschen an bestimmten Werten, während sie digital handeln.
Bei Stalder wird dies durch die kulturwissenschaftliche Beschreibungsweise und besonders durch die historische Hinführung am Anfang seines Buches nicht unbedingt deutlich. Die “Kultur der Digitalität” ist bei ihm eine Beschreibung von Sachverhalten, wie sie sich kulturell im Zuge der Digitalisierung ergeben haben. Wie stark wertorientiert diese Entwicklung war, kommt aus meiner Sicht in der Darstellung zu kurz.
Ein normatives Programm
Will man die als “Kultur der Digitalität” beschriebene Entwicklung als Leitbild für die Digitalisierung im Bildungsbereich verwenden, muss diese Unklarheit bewusst aus dem Weg geräumt werden. Die “Kultur der Digitalität” ist ein guter Ansatzpunkt, aber eben nicht als Versuch einer deskriptiven Beschreibung, zu was die Digitalisierung uns notwendig führen wird.
Wie oben beschrieben ist Digitalität ambivalent. Wir werden das bekommen, was wir uns erschaffen. Die “Kultur der Digitalität” beruht auf Werten. Wird sie zum Leitfaden für die Digitalisierung, stellt sie ein normatives Programm dar. Normativ zu sein, ist kein Nachteil. Ein Nachteil würde nur dann bestehen, wenn im Selbstverständnis dieser Umstand verkannt wird.
Die konstitutiven Werte der “Kultur der Digitalität” können nicht aus der Digitalität selbst abgeleitet werden. Daher ist es leider eine Illusion, dass es einen Automatismus gibt, nach dem sich durch die zunehmende Digitalisierung eine “Kultur der Digitalität” entwickeln wird.
Bildung hat immer eine Orientierung an Werten. Wenn die “Kultur der Digitalität” als Orientierungsbegriff dienen soll, wird sie keineswegs dadurch diskreditiert, dass sie auf Werten beruht und normativ ist. Vielmehr wird sie durch ein geklärtes Selbstverständnis an Zugkraft gewinnen.
Kultur des Teilens
Für die Werte der “Kultur der Digitalität” einzutreten, ist gesellschaftliches Engagement. Es entscheidet darüber, in welche Richtung die weitere Digitalisierung gehen wird. Gerade für die Bildung, die ja in vielen Bereichen eher noch vor dieser Entwicklung steht, ist derzeit ein entscheidender Moment. Die Stimmen der “Kultur der Digitalität” sind jetzt wichtig.
Von besonderer Bedeutung für das Leitbild der “Kultur der Digitalität” im Bildungsbereich ist die Kultur des Teilens. Diese Praxis hat sich aus den Gedanken der Open-Source-Bewegung heraus entwickelt. Viel ist bereits in Bewegung geraten. Die Absurdität, dass Lehrer:innen jeweils für sich Unterricht vorbereiten und dass das nicht systematisch gemeinsam erfolgt, bröckelt in ersten, zarten Ansätzen.
Die Kultur des Teilens ist unter anderem ein Gegenentwurf zu den traditionell von Schulbuchverlagen hergestellten Lernmitteln. Dieses Geschäftsfeld blieb im Digitalen vielfach unbesetzt. Das hat für die Kultur des Teilens einen Raum freigegeben. Doch dabei tauchen auch schwierige Fragen auf: Wie viel Kommerzialisierung ist mit einer Kultur des Teilens vereinbar? Muss immer alles um des symbolischen Kapitals willen, für die gute Sache, für die gegenseitige Anerkennung geteilt werden? Ist Teilen etwa nur ein Mittel zum Zweck, um anderweitige Vorteile oder auch finanzielle Gewinne zu erzielen?
Offenheit und Transparenz
Die Kultur des Teilens ist meines Erachtens das attraktivste Moment in der “Kultur der Digitalität”. Sie ist ein Faktor, der auch diejenigen anzusprechen vermag, die mit der Digitalisierung erst einmal wenig anfangen können. Diese Attraktivität kann man nutzen, um die “Kultur der Digitalität” im weiteren Verlauf der Digitalisierung des Bildungsbereichs stark zu machen.
Voraussetzung dafür ist, dass man sich selbst und anderen gegenüber zu den eben genannten Fragen Rechenschaft ablegt. Die Kultur des Teilens bleibt nur solange attraktiv, wie die unter diesem Vorzeichen miteinander handelnden Personen glaubwürdig bleiben. Ohne Transparenz geht hier aus meiner Sicht gar nichts. Niemand muss eine Kultur des Teilens praktizieren. Auch ganz unterschiedliche Maße des Teilens können in einer “Kultur der Digitalität” ihren Platz haben. Jeder kann für sich selbst entscheiden, in welchem Maß es einem möglich ist, die Werte hinter der “Kultur der Digitalität” zu fördern.
Jede dieser Entscheidungen beeinflusst, welche Art von Digitalität sich im Zuge der weiteren Digitalisierung etablieren wird. Oft wird behauptet, dass sich viele Hoffnungen auf das Internet nicht erfüllt hätten. Dass die Digitalität für den Bildungsbereich bis heute eine noch weitgehend unerschlossene Handlungsmöglichkeit ist, macht es möglich, hier einen Entwicklungsprozess bewusst zu gestalten. Der Nachteil der verspäteten Digitalisierung kann zu dem Vorteil von bewusst gestalteter Digitalität werden. Ich hoffe, sie wird an den Werten einer “Kultur der Digitalität” orientiert sein und von einer Kultur des Teilens geprägt sein.
Ich habe in diesem Artikel die “Kultur der Digitalität” in Anführungszeichen gesetzt. Ich tue das – wie man auch ansonsten sicher herauslesen konnte – nicht aus einer kritischen Haltung diesem Begriff gegenüber. Ich möchte damit vielmehr präsent halten, dass es kein Begriff des allgemeinen Sprachgebrauchs ist, sondern ein Konzept, wie es von Felix Stalder in seinem gleichnamigen Buch entworfen wurde.