Zentrale und dezentrale Medien

Wie Digitalität den digitalen Dualismus überwinden kann

Lars Mecklenburg
7 min readAug 23, 2020
Zentrale und dezentrale Medien

Die Begriffsdefinition von Digitalität als einer bestimmten Form des kommunikativen Handelns habe ich bereits in mehreren Artikeln hier ausgeführt (das Schreiben ist dabei für mich immer auch eine Erprobung, wie tragfähig die vorgenommene Bestimmung überhaupt ist). Eine der meines Erachtens fruchtbarsten Stellen, um diese Konzeption anzuwenden, sind Fragen zum Medienbegriff. Fruchtbar deshalb, weil die Denkweise der Digitalität den digitalen Dualismus zu überwinden hilft, von dem vor allem der Schuldiskurs zur Digitalisierung von Anfang an geprägt war.

Der digitale Dualismus unterscheidet das Analoge und das Digitale. Oftmals ist mit ihm eine kritische Sicht auf das Digitale verknüpft, aber das ist gar nicht das Problem. Das Problem besteht vielmehr darin, dass sich die Gegenüberstellung überhaupt nur aus einer bestimmten Perspektive ergibt. Und diese ist heute veraltet, weil sich das alltägliche Verständnis des Digitalen durch eine veränderte Praxis zunehmend davon entfernt hat. Beim digitalen Dualismus hat man es also mit einem veralteten Problem zu tun, das es dennoch vermag, einem regelmäßig Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Zwei Perspektiven

Die veraltete Denkweise ist die der Digitalisierung im Gegensatz zur Denkweise der Digitalität. Für die Denkweise der Digitalisierung ist eine technische Perspektive charakteristisch. Durch Technik wird Analoges in etwas Digitales überführt.

Die neue Denkweise der Digitalität nimmt eine veränderte Perspektive ein. Sie betrachtet das Digitale als eine Form der Kommunikation, die neben die bisherigen Formen der Oralität, Literalität und Medialität getreten ist. Viel spricht dafür, dass dies tatsächlich einem neuen Alltagsverständnis des Digitalen entspricht. Es war Felix Stalder, der diese Begriffsverschiebung explizit gemacht hat, auch wenn es bei ihm eher im Vorbeigehen geschah. Wo immer er von Digitalität spricht, geht es um die veränderten Bedingungen von Kommunikation als dem konstituierenden Moment von Kultur.

Digitalität in diesem Sinne interessiert sich nicht für Technik. Sie nimmt folgerichtig auch andere Fragen in den Blick, als es in der Denkweise der Digitalisierung der Fall ist.

Digitale Medien und ihr Mehrwert

In Bezug auf Medien ist die Denkweise der Digitalisierung von der Unterscheidung in analoge und digitale Medien geprägt. Beide werden einander gegenübergestellt. Im Schuldiskurs wurde dabei fast immer sehr kritisch vorgegangen: Soll man digitale Medien einsetzen? Und wenn ja, auf welche Weise ist es sinnvoll?

Axel Krommer hat viel zu dieser Frage geschrieben und sehr genau herausgearbeitet, warum die Frage nach dem Mehrwert von digitalen Medien falsch gestellt ist. Demnach stehen Medien gleichberechtigt nebeneinander. Durch das Hinzukommen einer neuen Art von Medien wird sichtbar, dass es sich auch bei den traditionellen Lernmaterialien um Medien handelt (nicht nur bei den digitalen). Rechtfertigungsfragen müssen dann für alle gleichermaßen gelten. Diese Position der Gleichberechtigung ist exakt die Denkweise der Digitalität.

Wieviel bringt einem aber der Medienbegriff, wenn er uns direkt ins Lagerdenken von analogen und digitalen Medien führt? Selbst wenn im Rechtfertigungsdiskurs die digitalen Medien gute Argumente aufweisen können, wird dies meines Erachtens den Graben des Lagerdenkens nicht zuschütten.

Die leidige Idee vom Leitmedium

Wenig hilfreich ist dabei auch eine Auffassung, welche in diesem Fall unter den Anhängern der Denkweise der Digitalität weit verbreitet ist. Nach dieser ist das Digitale das neue Leitmedium. Die Buchkultur (Gutenberg-Galaxis) werde von der Netzkultur (Turing-Galaxis) abgelöst.

Zweifellos hat die Digitalisierung das Feld der kommunikativen Handlungsmöglichkeiten nachhaltig umstrukturiert und wird dies auch weiterhin noch tun. Was an dieser Position aber wenig hilfreich ist, ist der Umstand, dass zwei Formen der Kommunikation gegeneinander ausgespielt werden. Dem Netz als Medium der Digitalität wird eine leitende Funktion zugesprochen gegenüber dem Buch als Stellvertreter der Literalität. Natürlich haben sich viele kulturelle Aushandlungsprozesse heute in das Internet verschoben. Aber das rechtfertigt nicht, das eine als leitend gegenüber dem anderen herauszustellen. Für mich ist die Idee des Leitmediums vielmehr Ausdruck dafür, beim analogen Lager die Akzeptanz des Digitalen erreichen zu wollen. Zu Grabenkämpfen gehören immer zwei Seiten.

Auf die Argumentation für und gegen einen Leitmediumwechsel will ich nicht hier, sondern in einem gesonderten Artikel eingehen. Hier geht es mir nur darum, wie die Idee des Leitmediums noch immer der Denkweise der Digitalisierung entspringt. Der digitale Dualismus ist nämlich auch hier vorhanden, nur dass diesmal das Digitale positiv hervorgehoben und das Analoge kritisch hinterfragt wird. Meines Erachtens ist das nicht die Denkweise der Digitalität, die das dualistische Denken überwinden will. Oralität, Literalität, Medialität und Digitalität sind rein deskriptiv heute die Formen unserer Kommunikation. Sie alle umfassen spezifische Bedingungen und Möglichkeiten und stehen gleichberechtigt nebeneinander, um je nach Kontext situativ ausgewählt zu werden.

Die Auswahl der kommunikativen Form ist darauf ausgerichtet, dass Kommunikation gelingt. Oralität ist das Medium des Unterrichtsgesprächs. Literalität ist das passende Medium etwa für ausgefeilte Interpretationen. Medialität ist bei Präsentationen ein wichtiger Bestandteil usw. Die Digitalität hat sich gesellschaftlich schon in diesen Reigen der kommunikativen Formen ganz selbstverständlich eingefügt. Auch in der Schule wird es dazu noch kommen. Für eine Gegenüberstellung aber fehlt jede Motivation. Der Begriff des Leitmediums kann weg.

Zentrale und dezentrale Medien

Kann der Begriff des Mediums dann nicht auch gleich mit weg? Er macht doch ohnehin nur Ärger. Nein, denn er lässt sich auch in der Denkweise der Digitalität nutzbringend verwenden. Aber dazu muss es eine Alternative geben zur Unterscheidung von analogen und digitalen Medien. Diese alternative Unterscheidung muss zudem griffbereit sein, weil das Denken und Gespräch sonst der Gewohnheit folgt und doch wieder im digitalen Dualismus landet. Als alternative Unterscheidung möchte ich zentrale und dezentrale Medien vorschlagen.

Medien sind per definitionem die Grundlage jeder Kommunikation. Sie stehen in deren Mittelpunkt. Mit der Unterscheidung von zentralen und dezentralen Medien werden diese danach eingeteilt, ob sie sich im Prozess der Kommunikation auf die Teilnehmer hin anpassen können. Ein zentrales Medium ist für alle Teilnehmer einer Kommunikationssituation gleich. Wenn Teilnehmer unterschiedliche Bedürfnisse haben, kann ein zentrales Medium nicht allen gerecht werden. Einem dezentralen Medium ist das möglich. Aber nur weil die Teilnehmer jeweils über ein eigenes Medium verfügen (sich also in eigenen, jeweils getrennten Kommunikationssituationen befinden), bedeutet das nicht, dass ein Medium bereits dezentral ist. Erst wenn sich das Medium im Prozess der Kommunikation an die Bedürfnisse des Teilnehmers anpasst, wird ein Medium dezentral. Das Kriterium ist individuelle Adaptation. In Lernkontexten sind dezentrale Medien aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessen besonders wichtig. Aber es gibt auch dort genügend Kontexte, in denen zentrale Medien die bessere Wahl sind.

Ich versuche ein paar Beispiele zu geben: Die klassische Tafel ist ein eher zentrales Medium. Sie ist für alle gleich und kann sich nicht individuell anpassen (kann aber andererseits die Rückmeldungen einer Lerngruppe aufnehmen). Das Smartboard als digitaler Ersatz tendiert ebenfalls dazu, ein zentrales Medium zu sein, und ist ähnlich wie die klassische Tafel einzuordnen. Hier deutet sich bereits an, wie der Graben zugeschüttet wird, weil der digitale Dualismus einfach nicht mehr greift. Das dialogische Unterrichtsgespräch ist dezentraler als der Vortrag vor großem Publikum, aber noch immer vergleichsweise zentral. Nur bestimmte Nachfragen können berücksichtigt werden, viele Fragen werden meist gar nicht gestellt. Ein Multiplikationsbrett nach Montessori aus Holz ist ein dezentrales Medium. Durch die Interaktion mit den Lernenden verändert es sich und bietet dadurch den Lernenden jeweils veränderte Möglichkeiten zur Einsicht.

Die digitalen Medien verfügen über viele Möglichkeiten, sich auf die Teilnehmer:innen (Benutzer:innen) einzustellen. Algorithmen spielen dabei eine wichtige Rolle. Es sollte aber klar sein, dass die Unterscheidung von zentralen und dezentralen Medien komplett quer liegt zu der von analogen und digitalen Medien. Dieses Querliegen ermöglicht es, eine Brücke über den Graben des digitalen Dualismus zu errichten.

Viele Medien sind nicht einfach nur zentral oder dezentral. Diese Eigenschaft ist vielmehr auf einer Skala zu verorten und die Position eines Mediums auf ihr kann sich dynamisch nach Kontext verändern. Dem entspricht, dass auch das Internet ein zentrales Medium sein kann, wenn es so verwendet wird. Das Medium mit dem wahrscheinlich größten Potential, dezentral verwendet zu werden, ist also kein Garant für dezentrales Lernen.

In der didaktischen Literatur gibt es mit Sicherheit schon ähnliche Unterscheidungen wie die in zentrale und dezentrale Medien. Ich selbst kenne mich da nicht aus. Wichtig ist vor allem, dass eine (der Sache nach) andere Unterscheidung von Medien etabliert wird, um das Lagerdenken zu überwinden und aus der Sackgasse der technischen Denkweise der Digitalisierung herauszukommen.

Ankunft in der Denkweise der Digitalität

Alle Medien, von den oralen über die literalen, medialen bis hin zu den digitalen, lassen sich einheitlich danach beurteilen, ob sie zentral oder dezentral verwendet werden. In diesen Kategorien kann man für Lernprozesse (und ähnlich bei der Entwicklung von Lernmaterialien) überlegen, ob sie eher zentral oder dezentral stattfinden sollen und welche Formen der Kommunikation (orale, literale, mediale oder digitale) dafür wie in Frage kommen.

Das Schönste kommt zum Schluss. Wie sich im vorigen Absatz gezeigt hat, ist ein (hoffentlich) sinnvolles Reden über verschiedene Arten von Medien möglich und die Unterscheidung in analoge und digitale Medien wird dafür nicht benötigt. Aus meiner Sicht ist das die Ankunft in der Denkweise der Digitalität oder – wie es neuerdings heißt – im postdigitalen Denken zum Medienbegriff.

Es ist manchmal schwer genauer zu beziffern, durch wessen Anregungen bestimmte Sichtweisen in einem wachsen. Neben Felix Stalder und dem erwähnten Axel Krommer ist hier auch Philippe Wampfler zu nennen. Ich schätze diese Dialoge sehr, auch wenn wir nie miteinander gesprochen haben. Zu nennen ist auch ein Gespräch, das ich kürzlich mit Jessica Flecks im Rahmen der OERcamp SummOERschool 2020 führen konnte und in dem sie mich auf die fruchtbare Verbindung von Digitalität und Resonanz aufmerksam gemacht hat.

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Lars Mecklenburg

Entwickler • Reflexionen zu Digitalität und Bildung • Bildungsplattform CodeLab Berlin • Grundschul-App MatheLab Berlin