Was ist Digitalität?

Neubestimmung als kommunikative Handlungsform

Lars Mecklenburg
7 min readJul 11, 2020
Kommunikatives Handlungsfeld: oral – literal – medial – digital

Der Begriff der Digitalität ist verglichen mit einem Begriff wie Digitalisierung relativ frisch in den allgemeineren Sprachgebrauch eingetreten. Als Bezugspunkt für diesen Begriff wird häufig das Buch „Kultur der Digitalität“ von Felix Stalder angeführt. Digitalität wird darin aus einer kultur-soziologischen, teils politischen Perspektive beschrieben. Diese Perspektive wiederum wird derzeit zunehmend aus einem pädagogischen Blickwinkel rezipiert. Als ein Beispiel für diese Rezeption sei auf das Barcamp #SchuleNeuDenken mit dem Thema „Lernen unter den Bedingungen einer Kultur der Digitalität“ verwiesen.

Allgemeines Verständnis

Wenn ein Begriff so viel Aufmerksamkeit erhält, scheint es sinnvoll, sich um ein genaues Verständnis zu bemühen. Meinen Versuch einer solchen begrifflichen Klärung stelle ich im Folgenden dar. Mein Ziel ist es, Digitalität deskriptiv zu fassen, also Prägungen des Begriffs aus spezifischen Perspektiven zu vermeiden. Dies wird ermöglichen, auf der Basis des möglichst allgemeinen Verständnisses unterschiedliche Debatten zu beleuchten, um zu verstehen, welcher Blick auf das Digitale im jeweiligen Diskurs eingenommen wird, welche Voraussetzungen gemacht und welche Absichten verfolgt werden.

Kommunikatives Handeln

“Digitalität” ist erst einmal nur die Substantivierung von “digital” (und nicht etwa “eine Wortschöpfung aus Digital und Materialität/Realität”, wie es derzeit im Wikipedia-Artikel heißt). Wie bei jedem Begriff lässt sich auch das Wort „digital“ nur in Bezug auf eine bestimmte Domäne sinnvoll verwenden. Diese Domäne ist das kommunikative Handeln des Menschen. Bestimmte kommunikative Handlungen des Menschen sind digital und unterscheiden sich von anderen kommunikativen Handlungen des Menschen, die nicht digital sind.

Auch mit der Substantivierung “Digitalität” wird nicht mehr gesagt, so sehr Substantive auch einen größeren Bedeutungsgehalt suggerieren. Auch Digitalität beschreibt also eine bestimmte Form des kommunikativen Handelns des Menschen und ermöglicht, diese von anderen Formen zu unterscheiden, die nicht digital sind. Um nun das Spezifische der digitalen Form zu klären, ist es sinnvoll, zunächst die anderen Formen kommunikativen Handelns zu beschreiben, die der Digitalität sowohl historisch als auch konzeptionell vorausgegangen sind.

Symbolische Formen

Der Mensch ist in besonderer Weise durch kommunikatives Handeln gekennzeichnet. Als einziges Tier entwickelte er zum Zweck des kommunikativen Handelns symbolische Formen. Vor allem durch das sprachliche Handeln, dem Verwenden von Lauten, Wörtern und Sätzen nach einer komplexen Regelstruktur, unterscheidet sich der Mensch von der Tierwelt. Neben der Sprache gibt es auch noch weitere symbolische Formen, auf die ich weiter unten kurz eingehen werde.

Verändertes Handlungsfeld I: Sprache

Auch wenn sich der Mensch durch die Sprache vom Tier unterscheidet, teilt er weiterhin mit ihnen seinen Ursprung und handelt in kommunikativer Absicht nicht nur sprachlich, sondern ebenso wie sie vorsymbolisch mit Gesten, Mimik und Geräuschen. Für den Menschen ist das vorsymbolische Handeln in das sprachliche Handeln integriert. Sprachliches Handeln hebt die vorsymbolischen Formen des kommunikativen Handelns nicht auf, sondern baut sie vielmehr als non-verbales Handeln parallel zum verbalen noch aus. Ein Nicken oder Stirnrunzeln sind vollwertige kommunikative Handlungen, die sich mit sprachlichen Handlungen vielfältig ergänzen. Durch Sprache ist das kommunikative Handlungsfeld des Menschen in erster Linie erweitert worden. Dies ist eine Beobachtung, die sich später wiederholen wird.

Oralität

Das sprachliche Handeln des Menschen war zuerst immer mündlich. Sprecher und Zuhörer mussten den Moment zeitlich wie räumlich teilen. Das kommunikative Handeln war flüchtig, nach dem Aussprechen war das Gesagte verhallt. Diese mündliche Form des kommunikativen Handelns ist mit dem Begriff der Oralität gekennzeichnet worden. Der Mensch war anfangs auf das Mündliche beschränkt. Betrachtet man sein gesamtes Zusammenleben unter diesem Aspekt, spricht man von oraler Kultur.

Literalität

Mit der Erfindung der Schrift veränderte sich das sprachliche Handeln und wurde um weitere Möglichkeiten für diejenigen ergänzt, die ihren Gebrauch beherrschten. Durch Schrift konnten kommunikative Situationen entstehen, die vorher ausgeschlossen waren. Die Bindung an einen gemeinsamen Moment des Sprechens und Zuhörens wurde aufgehoben. Eine Vielzahl von komplexen Texten wurde möglich, da ein Text nicht mehr nur im Gedächtnis aufbewahrt werden musste.

Um das Spezifische der schriftlichen Form des kommunikativen Handelns zu kennzeichnen, ist der Begriff der Literalität eingeführt worden. Betrachtet man das gesamte Zusammenleben der Menschen unter dem Aspekt der Schrift, spricht man in Abgrenzung zur vorausgegangenen oralen Kultur von literaler Kultur.

Verändertes Handlungsfeld II: Schrift

Die Möglichkeiten der Schrift wurden nicht nur als kultureller Fortschritt angesehen, sondern auch als Gefahr etwa für das Erinnerungsvermögen. Doch Schreiben und Lesen konnten durch ein solches Unbehagen nicht aufgehalten werden. Wie beim Übergang vom Vorsymbolischen zum Sprachlichen veränderte sich das Feld kommunikativer Handlungen nachhaltig: Schriftliches kommunikatives Handeln löste das mündliche Handeln aber nicht ab, allenfalls an Stellen, an denen das schriftliche Handeln dem kommunikativen Bedürfnis stärker entsprach. In erster Linie erweiterte die Schrift das kommunikative Handlungsfeld um Stellen, die der Mündlichkeit nie zugänglich gewesen waren.

Verändertes Handlungsfeld III: Buchdruck

Bis zur Erfindung des Buchdrucks war Schrift immer handschriftlich, auch bei der vor allem klösterlichen Vervielfältigung von Texten. Das änderte sich mit den neuen technischen Verfahren. Der Zugang zu Texten wurde weniger exklusiv, was die Voraussetzung für Bildung schaffte, wie wir sie heute kennen. Der Buchdruck löste die Handschrift nicht ab. Die Schreibstuben in den Klöstern fielen zwar weg, in erster Linie entstanden aber vielfältige neue Arten von Schrifterzeugnissen.

Medialität

Neben der Schrift entwickelte der Mensch noch eine ganze Reihe von weiteren Mitteln, um der Flüchtigkeit des Moments kommunikativer Handlungen zu entkommen. Diese waren wie die Sprache symbolischer Art, etwa Markieren (beispielsweise von Wegen oder Mengen), Malen und Bildhauen. Diese Formen reichen weit zurück in die Vergangenheit. Technisch aufgerüstet zählen später Fotografieren, Tonaufnahmen und Filmen dazu. Andere symbolische kommunikative Handlungen wie Singen, Musizieren, Tanzen blieben dagegen lange so flüchtig wie das mündliche Sprechen.

Die nicht-sprachlichen Verfahren bilden eine so bunte Vielfalt, dass sie schwer unter einen Begriff zu bringen sind. Es ist daher eher ein gruppierender Gegenbegriff zu den sprachlichen kommunikativen Handlungen, wenn ich diese Formen mit dem Begriff der Medialität zusammenfasse.

Kommunikatives Handlungsfeld

Oralität und Literalität haben sich das Handlungsfeld symbolischen kommunikativen Handelns immer mit den verschiedenen medialen Formen geteilt. Getragen von den Bedürfnissen des Lebens hat sich dieses Handlungsfeld in vielfältiger Weise differenziert und ist damit zum zentralen Ausdruck der menschlichen Entwicklungsfähigkeit geworden.

Kommunikatives Handlungsfeld: oral – medial
Abbildung 1: Kommunikatives Handlungsfeld bestehend aus Oralität und Medialität. CC BY-SA
Kommunikatives Handlungsfeld: oral – literal – medial
Abbildung 2: Kommunikatives Handlungsfeld bestehend aus Oralität, Literalität und Medialität. CC BY-SA

Digitalität

Nach Schaffung dieses begrifflichen Hintergrunds komme ich zur Ausgangsfrage, was Digitalität ist. Die Entwicklung von Computern als technischer Einheit aus Hard- und Software, ihre Vernetzung miteinander und das daraus entstehende Internet hat nochmals gänzlich neue kommunikative Handlungsformen ermöglicht. Wie die Schrift nicht zum Ende der Oralität, sondern zu den zusätzlichen Möglichkeiten der Literalität geführt hat, so gilt dies auch im Verhältnis der Digitalität zur den vorausgehenden kommunikativen Handlungsformen der Oralität, Literalität und Medialität. Eine neue Handlungsform wirkt auf die Bestehenden zurück und macht sie in Teilbereichen auch überflüssig. Dies geschieht aber nur, wenn dasselbe kommunikative Bedürfnis in der neuen Form auf bessere Weise erfüllt wird.

Verändertes Handlungsfeld IV: Internet

Wie in der Literalität die Sprache der Oralität integriert wurde, erfolgt dasselbe Vorgehen im Fall der Digitalität. In beiden Übergängen ist die Anschlussfähigkeit der folgenden an die vorausgehenden Handlungsformen gewährleistet. Besonders im Fall der Digitalität ist jedoch, dass nicht nur die zwei sprachlichen, sondern auch die nicht-sprachlichen kommunikativen Handlungsformen integriert werden. Das bestätigt begrifflich den umfassenden Wandel, der derzeit erfolgt: eine Vielzahl kommunikativer Bedürfnisse ist jetzt neben seiner ursprünglichen Form zusätzlich digital erfüllbar.

Digitalität, d. h. digitales kommunikatives Handeln, befreit den Menschen von vielen Einschränkungen des vorausgegangenen nicht-digitalen kommunikativen Handelns (in einem weiteren Artikel werde ich dies noch genauer ausführen) und integriert zugleich viele Handlungsmöglichkeiten von diesen. Sprache (verbale wie non-verbale), Schrift (durch Gestenerkennung auch Handschrift), verschiedenste audiovisuelle Medien sind selbstverständliche Bestandteile digitalen Handelns. Sogar das vorsymbolische kommunikative Handeln wird in bestimmten Aspekten integriert, wenn etwa Mimik mittels Gesichtserkennung in einen Avatar übertragen wird.

Will man das nicht-digitale Handeln beschreiben, kann man dem Sprachgebrauch folgen und diese verschiedenen Formen unter dem Begriff des Analogen zusammenfassen. Es sollte aber klar geworden sein, dass analoge Handlungsformen von digitalen umfangreich integriert werden und dass zwischen ihnen kein Gegensatz besteht.

Kommunikatives Handlungsfeld: oral – literal – medial – digital
Abbildung 3: Digitalität integriert wesentliche Teile der Handlungsmöglichkeiten von Oralität, Literalität und Medialität und gibt dem kommunikativen Handlungsfeld eine umfassend neue Struktur. CC BY-SA

Versuch einer Definition

Digitalität ist diejenige kommunikative Handlungsform, die mittels des Internets (mittels vernetzter Computer) die symbolischen Formen der Oralität, Literalität und Medialität (und in Teilen auch vorsymbolische Handlungsformen) integriert und dabei gegenüber diesen erweiterte Handlungsmöglichkeiten schafft. Die Art der Erweiterungen zu spezifizieren, wird wie gesagt Aufgabe eines weiteren Artikels sein (insofern ist die Definition noch unvollständig).

Digitale Kultur

Im Anschluss an orale und literale Kultur ist es folgerichtig, auch von digitaler Kultur zu sprechen. Damit wird gekennzeichnet, dass die digitale kommunikative Handlungsform neu und umfassend in die Lebenswelt des Menschen eingetreten ist und das kommunikative Handlungsfeld umstrukturiert hat. Ob das positiv oder negativ zu beurteilen ist, das ist begrifflich ausgelassen. Das ist wie eingangs angeführt deshalb wichtig, damit Digitalität als deskriptiver Begriff funktioniert, der ein gemeinsames Gespräch und eine Verständigung über die mit der Digitalisierung stattfindende Veränderung ermöglicht.

Folgerung

Eine der wichtigsten Folgerungen des hier vorgeschlagenen Begriffs ist, bei Digitalität weder in Geräten, Tools oder Apps noch in Medien zu denken, sondern stattdessen performativ: Digitalität bedeutet, dass Menschen kommunikative Handlungen in digitaler Form ausführen. Sie benutzen zu diesem Zweck die genannten Dinge, aber eben zur Erfüllung des jeweiligen kommunikativen Bedürfnisses. Digitalität ist immer ausgehend von den kommunikativen Handlungen zu verstehen und nachrangig von den technischen Mitteln, welche zur Erfüllung gewählt werden.

Ausblick

Mit diesem von mir vorgeschlagenen Begriff der Digitalität will ich verschiedene Begriffsverwendungen anderer Autoren in den Blick nehmen. Das wird fruchtbarer sein, als es auf den ersten Blick scheint. Auch das Buch von Felix Stalder werde ich mir vornehmen, so dass sichtbar wird, wie er seinem Begriff der Digitalität eine spezifische Perspektive zugrunde legt und dem Begriff damit eine bewusste Prägung gibt.

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Lars Mecklenburg

Entwickler • Reflexionen zu Digitalität und Bildung • Bildungsplattform CodeLab Berlin • Grundschul-App MatheLab Berlin