Vertrauen und Verantwortung

Leistungsbewertung im Notfallfernunterricht

Lars Mecklenburg
3 min readJul 27, 2020
Vertrauen geben und Verantwortung übergeben

Wie wahrscheinlich ist es, dass es wegen der Coronakrise zu einem erneuten Notfallfernunterricht kommt? Niemand kann diese Frage verlässlich beantworten. Sollte es aber erneut zu Schulschließungen kommen, wird sich ein Problem zurückmelden, das bereits beim zurückliegenden Notfallfernunterricht bestand: Ein solcher ist mit den üblichen Formen zur Leistungsbewertung im Schulunterricht nicht kompatibel.

Worin genau besteht das Problem? Was als Leistung nicht in der Schule unter Aufsicht durch Lehrer:innen erbracht wird, gilt als nicht bewertbar. Zu Hause könnten unerlaubte Hilfsmittel eingesetzt werden. Solche Hilfsmittel stehen nicht allen in gleicher Weise zur Verfügung. Darum kann eine Benotung weder objektiv die wirkliche Leistung erfassen noch gerecht gegenüber anderen sein.

In der Coronakrise bestand über diese Inkompatibilität von Anfang an weitgehender Konsens: Obligatorische Klassenarbeiten durften ausfallen, schriftliche Leistungen, die zur mündlichen Note gezählt werden, konnten wegen ihrer Anfertigung zu Hause nicht berücksichtig werden, Noten auf Zeugnissen wurden eingefroren, Versetzungen wurden leistungsunabhängig zugesagt. Das sonst für die Schule so eiserne Prinzip der Leistungsbewertung wurde als Reaktion auf die Coronakrise ausgesetzt oder zumindest zurückgestellt. Mir ist nicht bekannt, dass es dagegen größere Einwände gegeben hat.

Doch wie wird es sich auf die Schüler:innen auswirken, auf ihre Eigenmotivation und ihre Leistungsbereitschaft, wenn bei einem erneuten Shutdown nach demselben Schema verfahren wird? Könnte es nicht zum Problem werden, wenn Leistungen wiederholt unberücksichtigt bleiben müssen? Eine gute Lösung scheint mir, einerseits am Prinzip der Leistungsbewertungen auch im Notfallfernunterricht festzuhalten und sich andererseits vom beschriebenen Denkmuster für Leistungsbewertungen zu lösen. Wie das aussehen könnte, habe ich kürzlich in diesem Text veranschaulicht. Ich fasse es kurz zusammen:

Statt das Vortäuschen von Leistungen zu untersagen, indem man die Nutzung von Hilfsmitteln verbietet, könnte man das Vortäuschen von Leistungen obsolet machen, indem man die Nutzung von beliebigen Hilfsmitteln gestattet. Um dennoch eine vergleichbare Bewertung von Leistungen zu gewährleisten, wendet man ein akademisches Prinzip an: das der transparenten Angabe von allen verwendeten Hilfsmitteln.

Die Schüler:innen beschreiben die von Ihnen genutzten Quellen und geben auch alle Personen an, mit denen sie zusammengearbeitet haben (was sie dürfen). Sie reflektieren auf diese Weise ihr eigenes Handeln und werden für ihr eigenes Lernen mit in die Verantwortung genommen. Lehrer:innen berücksichtigen bei ihrer Bewertung den Eigen- und Fremdanteil sowie den Prozess, wie Hilfsmittel ausgewählt und angewendet wurden.

Viele Aspekte des Vorschlags sind nicht neu. Lerntagebücher und Portfolios werden schon länger als pädagogische Werkzeuge eingesetzt. Es gibt verschiedene Verfahren zur Selbstbeurteilung. Die Reflexion des eigenen Lernprozesses wird bereits in Grundschulen geübt.

Was eher neu ist, ist das Maß an Vertrauen in die Schüler:innen, dass man auf Basis ihrer Aussagen Leistungsbewertungen aufbauen kann, und das Maß an Verantwortung, das Schüler:innen für ihr eigenes Lernen übernehmen müssen. Der Notfallfernunterricht begrenzt die Möglichkeiten zur Kontrolle seitens der Lehrer:innen. Dadurch entsteht ein Leerraum, den man sinnvoll als Freiraum nutzen könnte. Ihn den Schüler:innen vertrauensvoll in die Hände zu legen, könnte über die Notsituation hinaus Wege öffnen. Zumindest ließe sich aus der Not ein Anfang machen.

Eine offene Sammlung zum Thema Prüfungsformate unter den Bedingungen der Digitalisierung mit vielen anregenden Artikeln wird von Christian Albrecht und Axel Krommer gepflegt.

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Lars Mecklenburg

Entwickler • Reflexionen zu Digitalität und Bildung • Bildungsplattform CodeLab Berlin • Grundschul-App MatheLab Berlin