Prüfungen als heimlicher Lehrplan

Verstehens- oder prüfungsorientierter Mathematikunterricht

Lars Mecklenburg
4 min readAug 2, 2021
Prüfungen als heimlicher Lehrplan

Unstrittig ist, dass viele Schüler:innen Probleme mit dem Fach Mathematik haben. Im Rahmen des Dossiers “Die Mathe-Wende: Wie Kinder besser Mathe lernen” diagnostiziert Susanne Prediger unter dem Titel “Mathematik muss nicht wehtun”, dass es im Mathematikunterricht an Verstehensorientierung und kognitiver Aktivierung fehle. Diese Diagnose ist sicher richtig. Im Folgenden möchte ich aber dafür argumentieren, dass mit einer veränderten Didaktik, die den Unterricht auf die genannten Merkmale ausrichtet, das Problem nicht gelöst wird.

Veränderungen der Didaktik des Mathematikunterrichts werden seit langer Zeit diskutiert, gefordert und auch umgesetzt. Und doch sind Sichtweisen, dass es heute für erfolgreiches Lernen in Mathematik einer gewissen Hartnäckigkeit bedarf, man sich durchbeißen müsse (letztlich “wie man selbst”), ein trauriges Anzeichen dafür, wie weit der Weg für die noch immer nötigen Entwicklungen ist. Wo ist beispielsweise die breite Wirkung des Mathe 2000 Projekts rund 20 Jahre nach jener Jahresangabe, die in den 80er Jahren für eine Zukunftsvision stand? Immerhin scheint das DZLM diesem Ansatz neuen Schwung und weitere Durchsetzungskraft geben zu wollen.

Sowohl die Fachdidaktik (mit ihren Aus- und Fortbildungsbemühungen um “mathematik-didaktisch professionelle Lehrkräfte”) als auch die engagierten Lehrer:innen (mit ihrem “großem Engagement und viel Geduld”, wie Susanne Prediger schreibt) werden jedoch strukturell daran gehindert, dass sich der Mathematikunterricht grundlegend verändert. Vordergründig ist der Mathematikunterricht längst kompetenzorientiert in den Rahmenlehrplänen verankert und die prozessorientierten Kompetenzen stehen gleichauf mit inhaltsorientierten, was eigentlich den nötigen Freiraum für genau jene Veränderungen geben sollte, die mit Verstehensorientierung und kognitiver Aktivierung angesprochen sind.

Aber es gibt hintergründig noch den zweiten, heimlichen Lehrplan, der mindestens genauso wirkungsmächtig ist und im konkreten Fall des Mathematikunterrichts geradewegs kontraproduktiv für die geforderten Veränderungen: Die Prüfungsformate haben sich bei der didaktischen und kompetenzorientierten Neuausrichtung nicht im gleichen Maße wie die angestrebte Lernkultur verändert. Wer aber auf neue Weise lernen soll, muss auch auf neue Weise geprüft werden. Eine veränderte Lernkultur kann nur mit einer veränderten Prüfungskultur einhergehen.

Insbesondere im Fach Mathematik fallen im Prüfungskontext die prozessbezogenen Kompetenzen weitgehend unter den Tisch. Und da Prüfungen der Wirkungsweise heimlicher Lehrpläne gemäß maßgeblich auf die Lernkultur Einfluss nehmen, bleibt es dann letztlich bei der Unkultur einer Aufgabendidaktik, in der mechanisches Rechnen statt mathematischem Denken dominiert, in der es richtige und falsche Lösungen gibt und kein Argumentieren, warum eine bestimmte mathematische Modellierung sinnvoller ist als eine andere, warum ein anderer Lösungsweg genauso möglich oder vielleicht sogar noch geschickter ist.

Eine Didaktik mit ernsthafter Verstehensorientierung und kognitiver Aktivierung scheitert, solange am Ende eine Prüfung steht, die nicht auf genau diese Aspekte ausgerichtet ist, sondern die ein mechanisches Vorführen von Rechenoperationen mit guten Noten belohnt. Sowohl viele Lernmaterialien der Schulbuchverlage (insbesondere für die Grundschule) als auch die Start-ups und sehr erfolgreichen YouTuber mit ihren Trainingsvideos verfestigen das Üben von Oberflächenstrategien und bedienen damit Bedürfnisse, die aus einer Prüfungskultur herrühren, die nicht auf die Entwicklung von tieferem Verständnis und kompetentem Handeln ausgerichtet war. Wer ein vertieftes Lernen anstrebt, muss sich daher um eine zeitgemäße Prüfungskultur bemühen, in der Oberflächenstrategien nicht die pragmatisch beste Lösung zwischen Aufwand und Erfolg sind.

Kompetenzorientiert zu prüfen, bedeutet in vielen Fällen, gar nicht zu prüfen, sondern Lernprozesse zu begleiten und bereits diese Begleitung für die Benotung heranzuziehen. Es wird dabei nicht nur weniger geprüft, sondern auch weniger benotet, um die Lernprozesse von ihrer Bewertung frei zu halten und die Macht des heimlichen Lehrplans »Prüfung« bewusst zu kontrollieren. Wer prüft und benotet, schränkt die Wirkung von didaktisch vorbereiteten Lernumgebungen ein. Das geht so weit, dass sich die didaktisch antizipierten Lernprozesse von Schüler:innen gar nicht erst ereignen und entfalten, weil sie aus der Kosten-Nutzen-Rechnung angesichts der Prüfungen herausfallen.

Eine auf Bildungserfahrungen beruhende Pädagogik gelingt, wenn die dabei stattfindenden Lernprozesse selbst das Ziel sind und nicht eine instrumentelle Vorstufe mit der Funktion der Prüfungsvorbereitung. Prüfungen werden ansonsten immer zum eigentlichen Ziel, der Lernprozess darauf ausgerichtet, was rückwirkend mit Oberflächlichkeit des Lernprozesses und einer hinsichtlich des Aufwands optimierten Simulation von Kompetenzen einhergeht.

Wer heute in dieser Weise umdenkt (und letztlich in seinem so gestalteten Unterricht von der Fachdidaktik wie den Rahmenlehrplänen gedeckt ist), bewegt sich dennoch in Grenzbereichen, die bildungspolitisch zu überarbeiten sind. Die Verordnungen der gegenwärtigen Prüfungsformate geben diesen eine nicht zu unterschätzende Wirkungsmacht über Lernhandlungen. Es ist nicht Aufgabe von Schüler:innen, in ihrem Lernhandeln nicht so sehr “auf Prüfungen zu starren” und an ihrer “positiven Einstellung zum Lernen” zu arbeiten. Denn wenn sie prüfungs- statt verstehensorientiert handeln, folgen sie nur der Logik des Schulsystems. Es ist vielmehr die Aufgabe der Bildungspolitik, Rahmenbedingungen auch im Bereich der Prüfungsformate so umzugestalten, dass es auf die Lernhandlungen selbst und nicht ihre nachträgliche Überprüfung ankommt.

Voraussetzung für nachhaltige Bildungserfahrungen sind lernwirksame Handlungsumgebungen. Diese allgemein akzeptierte Ansicht der Pädagogik bleibt Sonntagsrede, wenn diese Umgebungen auf abschließende Prüfungen ausgerichtet bleiben. Didaktische Settings verlieren ihre Lernwirksamkeit und das Ziel nachhaltiger Bildungserfahrungen bleibt unerreicht. Es braucht eine neue bildungspolitische Rahmensetzung für eine veränderte Prüfungskultur. Nur dann kann auch – speziell im Problemfach Mathematik – eine auf Verstehensorientierung und kognitive Aktivierung ausgerichtete Lernkultur wirksam und die Unkultur der Aufgabendidaktik überwunden werden.

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Lars Mecklenburg

Entwickler • Reflexionen zu Digitalität und Bildung • Bildungsplattform CodeLab Berlin • Grundschul-App MatheLab Berlin