Demokratie und Digitalität

So viel Konsens wie möglich, so viel Politik wie nötig

Lars Mecklenburg
5 min readAug 3, 2020
Demokratie und Digitalität

Konsens

Wenn über etwas Konsens besteht, hat die Politik es einfach. Aber zu keinem Thema besteht wirklicher Konsens. Selbst abwegige Ideen (aus der Sicht der anderen) finden treue Anhänger. Tatsächlich ist Konsens wie die Hydra: vielköpfig, immer dazu neigend, an der Stelle des einen Kopfes zwei weitere auszubilden, und noch dazu ein schlangenhaftes Wassertier, das ständig in Bewegung ist.

Konsens wird gern als Einigkeit vorgestellt, als das sich Einigsein in Meinungen oder Interessen. Aber das verkennt den hydrahaften Charakter. Konsens ist nicht Einigkeit, sondern Akzeptanz trotz Uneinigkeit. Konsens herzustellen bedeutet, alle Köpfe der Hydra unter einen Hut zu bekommen, weil auch derjenige Kopf das Aufsetzen des Hutes akzeptiert, nach dessen Geschmack er eigentlich nicht ist.

Für denjenigen, der mit etwas übereinstimmt, ist die Akzeptanz ein leichtes Spiel. Aber für den, der mit etwas nicht übereinstimmt, ist diese Akzeptanz mitunter eine schwere Last. Konsens herrscht, wenn im Miteinander die Bereitschaft erreicht wird, auch die schwere Last zu tragen, dass die eigene Sicht unverwirklicht bleibt. Konsens kann also auch trotz unterschiedlicher Meinung und trotz verschiedener Interessen bestehen. Die Aufkündigung eines Konsens besteht umgekehrt darin, dass die Bereitschaft wieder verloren geht und die zu tragenden Meinungslasten neu zu verteilen sind.

Demokratie

Konsens ist das Herz der Demokratie. Aber wie Konsens gern als Einigkeit vorgestellt wird, so ist es ähnlich unzutreffend, Demokratie vornehmlich in der Politik zu verankern. Zwei sehr unterschiedliche Begriffe von Demokratie sind auseinanderzuhalten. Demokratie im politischen Sinn ist der landläufige Begriff, nach dem sie in politischen Institution stattfindet, im Ritual des Wählens und im Handeln der Repräsentanten. Demokratie in diesem Sinn ist eine Regierungsform.

Der zweite Begriff ist die gemeinschaftliche Demokratie. Mit diesem sind paradoxe Formulierungen möglich: Auch nicht demokratische Regierungsformen können danach demokratisch sein und demokratische Regierungsformen können sich in einem sehr undemokratischen Zustand befinden. Oder: Politische Handlungen können undemokratisch sein, obwohl die Regeln der politischen Demokratie nicht gebrochen werden. Es ist offensichtlich, dass dieser Begriff nichts mit Wahlen oder politischer Repräsentation zu tun hat. Zugleich ist der Sprachgebrauch sehr vertraut und nicht viel weniger landläufig.

Die gemeinschaftliche Demokratie vollzieht sich in unserem Zusammenleben, wenn wir für die Fragen dieses Zusammenlebens nach Konsens suchen – wohlgemerkt nach einem Konsens, der in der Akzeptanz von Uneinigkeit und nicht in dem Anspruch auf Einigkeit besteht, weil akzeptiert wird, dass dieser oft nicht zu verwirklichen ist. Auch wenn wir die politische Demokratie wohl meist zuerst im Sinn haben, ist diese nichts ohne die gemeinschaftliche Demokratie.

Die gemeinschaftliche Demokratie findet im Gespräch auf der Straße statt. Das ist ein Gedanke John Deweys. Ich verstehe ihn so, dass Demokratie nicht darin besteht, für die richtige Meinung einzutreten und diese auf der Klaviatur des politischen Systems so geschickt zu spielen, dass sie sich dort durchsetzt. Sondern sie besteht darin, an der allgemeinen Akzeptanz einer Sicht auf unser Zusammenleben zu feilen. An diesem Feilen kann und sollte sich die politische Demokratie beteiligen. Die Grundlage bleibt aber die gemeinschaftliche Demokratie, also unser aller Handeln, das kein Wählen ist, sondern fortwährendes Suchen.

Wandel

Ich halte es für keine Sonntagsrede, dass die gemeinschaftliche Demokratie die politische Demokratie trägt. Denn die gemeinschaftliche Demokratie bestimmt die Wählbarkeit innerhalb der politischen Demokratie sehr konkret. Und hier kommt die Hydranatur zum Vorschein, die in jedem Konsens steckt. Das Wassertier ist in Bewegung geraten, Wählbarkeit hat sich in vielen politischen Demokratien verändert. Das ist nicht notwendig ein Versagen der politischen Demokratie, sondern erst einmal ein Wandel innerhalb der gemeinschaftlichen Demokratie.

Würde die politische Demokratie die Wählbarkeit von oben bestimmen, würde sie ihr Selbstverständnis aufgeben. “Eine Demokratie muss das aushalten”, hieß es in den letzten Jahren oft. Wem der Zustand der gemeinschaftlichen Demokratie nicht gefällt, der darf nicht die Politik anrufen, sondern muss das Gespräch auf der Straße führen. Man wünscht sich dafür Hilfe “von oben”. Aber was soll das konkret sein? Ich glaube, wir müssen alle selbst mit ran.

Demokratie ist nicht in Gefahr, wenn Politik zum Schmierentheater verkommt, denn das ist in der politischen Demokratie von Anfang an angelegt. Zum Wählen gehört Gefallenwollen. Demokratie ist in Gefahr, wenn das Suchen nach Konsens als Kern der gemeinschaftlichen Demokratie aufgekündigt wird. Und noch einmal: Es geht nicht um Überzeugen des anderen von der eigenen Meinung, sondern um Akzeptanz trotz Uneinigkeit. Die eigentliche Krise der Demokratie ist, wenn das Gespräch auf der Straße verstummt. Noch ein paar Schreie, aber mehr nicht. Die Fortsetzung findet nicht mehr auf der Straße, sondern hinter verschlossenen Türen statt.

Digitalität

Wie hängen Konsens und Demokratie mit Digitalität zusammen? In diesem Artikel habe ich Digitalität als eine neue Form des kommunikativen Handelns zu bestimmen versucht, welche das kommunikative Handlungsfeld grundlegend umstrukturiert hat. Ein Prozess, der natürlich noch in vollem Gange ist. Wenn das Gespräch auf der Straße für John Dewey die Heimat der Demokratie ist, dann hat sie angesichts der Umstrukturierung des kommunikativen Handlungsfelds ihren Hauptwohnsitz umgemeldet. Und weil die digitale Handlungsform neu und von noch frischen Bedingungen geprägt ist, fürchtet man fast, dass dieser Umzug “unbekannt verzogen” bedeutet.

Die Bedingungen der Demokratie haben sich durch die Bedingungen der Digitalität unseres kommunikativen Handelns grundlegend verändert. Es gibt ungemein viel Handeln, das zur gemeinschaftlichen Demokratie zu rechnen ist. Doch viel davon ist nicht auf Konsens ausgerichtet. Gespräche im digitalen Raum sind oft davon geprägt, dass in ihnen nicht auf die Akzeptanz der unterschiedlichen Meinungen zugearbeitet wird, sondern für das Durchsetzen der eigenen Meinung gekämpft wird. Das steigert sich dann zu Formen, in denen das sachliche Gespräch gar nicht mehr das Ziel ist, sondern die bloße Ablehnung, Provokation und Erzeugung von Ängsten. Der digitale Raum ist noch nicht besonders gut zurecht gemacht, um darin gemeinschaftlich in Demokratie zu leben.

Alle Tendenzen, das Gespräch auf der Straße zu beenden und hinter verschlossenen Türen fortzuführen, arbeiten gegen die gemeinschaftliche Demokratie. Dass man nicht zu Einigkeit und oft nicht einmal zu Kompromissen kommen kann, sollten wir nach so vielen Erfahrungen nicht mehr anders erwarten. Aber wenn man aufhört, an der Akzeptanz der Uneinigkeit, am Verständnis für den anderen zu arbeiten, dann gibt man die gemeinschaftliche Demokratie auf. Wir werden die Demokratie dann leider in beiden Lesarten verlieren, sowohl als funktionierende Regierungsform als auch als reichhaltige Lebensform. Bemühen wir uns bitte um ein Gespräch, so schwer es fällt. Klopfen wir bitte weiterhin an die zugeschlagenen Türen.

Ein kleiner Versuch, an den Bedingungen der Digitalität zu schrauben, war diese Idee, mittels eines Hashtags in digitalen Kommunikationen die Rolle vermittelnder Stimmen zu ritualisieren. Es geht darum, den digitalen Raum für demokratisches Handeln besser zurecht zu machen. Nicht durch Verbieten und Löschen, sondern durch Dranbleiben am Gespräch, das in die richtige Richtung geht.

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Lars Mecklenburg

Entwickler • Reflexionen zu Digitalität und Bildung • Bildungsplattform CodeLab Berlin • Grundschul-App MatheLab Berlin