Digitalität und Digitalisierung
Verschiedene Lesarten von Digitalisierung
Wie ist das Verhältnis von Digitalität und Digitalisierung? In einem vorherigen Artikel habe ich vorgeschlagen, den Begriff der Digitalität als eine Form kommunikativen Handelns zu bestimmen, welche von Oralität, Literalität und Medialität zu unterscheiden ist und welche zugleich in enger Beziehungen mit diesen steht. Der vergleichsweise neue, für viele noch ungewohnte Sprachgebrauch von Digitalität ließ es mir möglich erscheinen, einen solchen Vorschlag für einen sinnvollen Sprachgebrauch zu unterbreiten. Anders beim Begriff der Digitalisierung. Dessen bestehender Sprachgebrauch ist sehr etabliert. Zugleich ist er aber auch sehr heterogen. Im Folgenden werde ich daher versuchen, verschiedene Lesarten von Digitalisierung mit dem von mir vorgeschlagenen Begriff der Digitalität als kommunikativer Handlungsform zu unterscheiden.
Digitale Integration
Der Übergang von den analogen Handlungsformen zur digitalen Handlungsform ist eine erste Lesart von Digitalisierung. Diese möchte ich digitale Integration nennen. Digitalisierung in diesem Sinn bedeutet, dass digitales Handeln durch das Aufkommen des Internets überhaupt möglich geworden ist. Das kommunikative Handlungsfeld, also welche Handlungen zur Erfüllung kommunikativer Bedürfnisse zur Verfügung stehen, wurde durch die Handlungsmöglichkeiten mittels des Internets umfangreich neu gestaltet. Digitales Handeln fügte sich in das bisherige Handlungsfeld ein und integrierte zugleich die bestehenden Handlungsformen in das Digitale.
Diese eher unaufgeregte Lesart von Digitalisierung findet sich in Formulierungen wieder, nach denen wir heute in einer digitalisierten Welt leben, einer digitalisierten Kultur, Gesellschaft etc. Mit Digitalisierung wird betont, dass die Welt zuvor analog war, während sie nun digital geworden ist. Während zuvor oral, literal, medial kommuniziert wurde, geschieht kommunikatives Handeln nun zusätzlich auch digital. Der Unterschied von Digitalität und Digitalisierung ist in dieser Lesart so gering, dass man ohne größeren Verlust auch einfach von digitaler statt digitalisierter Welt, Kultur oder Gesellschaft sprechen könnte.
Digitale Transformation
Die häufigste Lesart von Digitalisierung ist die, dass digitale Handlungsformen an bestehenden Stellen des kommunikativen Handlungsfelds genutzt werden. Dies kann ein Nebeneinander von analogen und digitalen Formen bedeuten, aber genauso auch ein Verdrängen der bisherigen Form. Es ist weniger wahrscheinlich, dass eine digitale Ausgabe eines Schulbuchs (als PDF-Datei) die Nutzung des gedruckten Schulbuchs verdrängen wird. Bei einer digitalisierten Handschrift eines historischen Texts sieht das schon anders aus. Die Zeiten teurer Faksimile-Ausgaben dürfte vorüber sein, zu attraktiv ist das Benutzen einer hochaufgelösten, mit zusätzlichen Annotationen versehenen digitalen Handschrift.
Digitale Transformationen setzen bei vorhandenen Stellen im kommunikativen Handlungsfeld an und schaffen zu diesen digitale Varianten. Wenn die kommunikativen Bedürfnisse mit den neuen Handlungsformen besser erfüllt werden, wird die alte Form verdrängt. Musik zu kaufen statt zu streamen, Nachrichten in der Druckausgabe statt im Internet zu lesen, Banküberweisungen per Stift auszufüllen sind Handlungsformen, die heute vielfach obsolet geworden sind – mit sehr konkreten Auswirkungen. Digitalisierung im Sinn von digitaler Transformation nimmt das Bestehende und nutzt digitale Möglichkeiten, um entweder dasselbe zu machen oder etwas, das gegenüber dem Bestehenden einen gewissen Mehrwert hat.
Digitale Innovation
Digitalisierung im Sinn der digitalen Transformation von Bestehendem ist häufig von Skepsis begleitet. Das ist insofern nachvollziehbar, als nicht klar ist, was Digitalisierung in diesem Sinn überhaupt “groß” verändert, außer dass es Bequemlichkeit oder ähnliches fördert. Doch Digitalisierung kann noch weiter gehen und damit komme ich zur dritten Lesart. Nach dieser wird nicht eine bestehende Stelle im kommunikativen Handlungsfeld transformiert, sondern es werden neue Stellen geschaffen. Das Handlungsfeld wird durch Digitalität erweitert.
Digitalisierung im Sinn von digitaler Innovation findet immer dann statt, wenn angesichts der Möglichkeiten des digitalen kommunikativen Handelns ein neuer Weg gesucht wird, um ein kommunikatives Bedürfnis besser zu erfüllen. Ein digitales Schulbuch in diesem Sinne löst sich von der analogen Vorlage und überlegt neu, wie das kommunikative Bedürfnis unter den Bedingungen der Digitalität, d. h. über digitales kommunikatives Handeln umgesetzt werden kann. Wer auf diese Weise neu überlegt, stellt nicht selten die bisherige Praxis auch ganz grundsätzlich in Frage.
Im Bildungsbereich ist diese Art von Digitalisierung der Bereich, welcher derzeit von Lehrenden mit viel Engagement bearbeitet wird. Beispielhaft sei hier Björn Nölte ☕ genannt, der mit dem Titel “digital statt digitalisieren” eine kleine Video-Reihe überschrieben und folgendes Zitat an deren Anfang gestellt hat: “Digitale Bildung heißt für mich Lernen in einer digitalisierten Welt – und nicht Digitalisieren von analoger Schule” (YouTube, Folge 1). Hier sehen wir unmittelbar zwei der vorgestellten Lesarten von Digitalisierung: “digitalisierte Welt” ist Digitalisierung im Sinn der digitalen Integration und könnte auch “digitale Welt” heißen. Das abgelehnte “Digitalisieren von analoger Schule” ist Digitalisierung im Sinn der digitalen Transformation mit der angesprochenen Skepsis. Was Nölte vorschwebt ist digitales Handeln im Sinn der dritten Lesart von Digitalisierung als digitaler Innovation, um Schule besser zu machen als im analogen Paradigma.
Digitale Automatisierung
Es gibt mindestens noch eine weitere Lesart von Digitalisierung, die sich an die der digitalen Innovation anschließt. Digitale Handlungsformen basieren auf dem Internet mit seiner Nutzung von vernetzten Computern. Als sich der Buchdruck entwickelte, setzten sich Schriftsetzer zwischen Schreibende und Lesende. Sie haben beispielsweise maßgeblich an der Entwicklung der Orthographie mitgewirkt und insofern an den Texten mitgeschrieben. Ähnlich können sich im Internet beliebige Programme in kommunikative Handlungen einschalten. Sie können das so weitgehend tun, dass die Programme anstelle anderer Menschen automatisiert reagieren und das kommunikative Bedürfnis der handelnden Person ganz allein erfüllen.
Während Digitalisierung als digitale Transformation häufig Skepsis auslöst, erzeugt digitale Automatisierung sogar Angst. Das eigenständige Reagieren auf kommunikative Handlungen durch eine Maschine nimmt dem menschlichen Ursprungsmoment des miteinander Sprechens irgendwie etwas von seinem menschlichen Antlitz. Als jemand, der solche Programme regelmäßig entwickelt, sehe ich dies etwas anders. Ein gutes Programm ist für mich eher wie ein gut durchdachter Text, der zur richtigen Zeit genau auf den Punkt zu sprechen kommt, den der Lesende im Sinn hat.
Bildung in Deutschland
Der Bildungsbereich in Deutschland hängt nach allgemeiner Einschätzung in der Digitalisierung hinter vielen anderen Ländern her. Wenn ich das richtig sehe, betrifft dies sämtliche Lesarten von Digitalisierung, die ich eben unterschieden habe. Es wird teilweise nicht einmal akzeptiert, dass sich digitales kommunikatives Handeln gut in die anderen kommunikativen Handlungsformen integrieren lässt. Durch Schulschließungen während der Corona-Krise dürfte vor allem die digitale Transformation vorangebracht worden sein. Wie umfassend und nachhaltig dieser Schub war, wird sich noch zeigen müssen. Bei den Lehrenden, welche schon länger auf der Suche nach digitalen Innovationen sind, spürt man auch noch heute, wie sehr sie um die Anerkennung dieses Vorhabens ringen und wie oft sie in ihrem Engagement bereits Ablehnungen wegstecken mussten. Und gänzlich unausgestanden ist meines Erachtens, ob in Deutschland der Weg zur digitalen Automatisierung im Bildungsbereich überhaupt gegangen werden wird. Andere Länder versuchen hier bereits Programme einzusetzen, um beispielsweise Feedbackprozesse während des Lernens zu automatisieren.
Ausblick
Sicher gibt es noch weitere Lesarten von Digitalisierung. Mir ging es vor allem um Klärungen, die sich durch die Anwendung des Begriffs der Digitalität als kommunikativer Handlungsform ergeben. Digitalisierung ist ein Veränderungsprozess von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Wenn die Forderung nach “mehr Digitalisierung” vorgetragen wird, ist es wichtig zu verstehen, um welche der hier unterschiedenen Lesarten es dabei geht. Häufig geht vor allem in der Schule eine diffuse Angst um, dass Digitalisierung die Lehrenden überflüssig machen könnte. Digitalisierung ist dann stark mit digitaler Automatisierung assoziiert. Dass die Forderung nach Digitalisierung bislang auf diese Lesart am wenigsten zielt, könnte durch die vorgenommenen Unterscheidungen eventuell etwas einfacher aufzuklären sein.