Buchkultur und Digitalität

Kritische Anmerkungen zum Gegenbegriff der Buchkultur

Lars Mecklenburg
3 min readJan 8, 2021

Der Begriff der Buchkultur ist weit verbreitet. In der Reflexion über den von uns erlebten Wandel hin zu einer digitalen Kultur hat er die Funktion eines Gegenbegriffs inne. Er ist wie ein Platzhalter für die Zeit vor der heutigen Kultur der Digitalität oder vor der “Netzkultur”.

Was beim Begriff der Buchkultur als eines Gegenpols zu kritisieren ist: Er ist untauglich dafür, auch nur halbwegs das breite Feld der Veränderungen zu umreißen, die im Zuge der Digitalisierung und beim Übergang zu einer digitalen Kultur stattfinden. Die Buchkultur stellt allenfalls einen sehr spezifischen Ausschnitt digitalen Wandels dar. Ihn sprachlich als Kernbereich dieses Wandels auszuzeichnen, ist für eine Reflexion über Digitalität wenig hilfreich.

Wie wenig der Begriff der Buchkultur allgemein anwendbar ist, zeigt sich besonders deutlich für den gesellschaftlichen Teilbereich der Politik. Es ist offensichtlich, wie sich Demokratie in der digitalen Kultur nachhaltig verändert hat. Die Wege der Meinungsbildung, der Mehrheitssuche, der Partizipation sind heute in vielen Hinsichten andere geworden. Wurde dabei eine Buchkultur zurückgelassen? Ich kann nicht erkennen, inwiefern die vorausgehende, nicht-digitale politische Kultur sinnvoll über diesen Begriff charakterisiert werden könnte. Politische Meinungsbildung fand immer über ganz andere Medien wie Zeitungen oder Flugschriften statt. Von den mündlichen Kontexten wie politischen Reden, Debatten oder nicht-öffentlichen Diskussionen ganz abgesehen.

Im Fall der Politik wird deutlich, dass der Begriff der Buchkultur nicht als allgemeiner Gegenbegriff zu digitaler Kultur taugt. Diese nicht-digitale Kultur lässt sich nur sehr begrenzt mit dem Medium des Buches verknüpfen. Zugleich überspringt die darin liegende Hervorhebung all die anderen Medienformen, wie sie im Bereich der Politik bis heute wichtig sind, die aber weder Buch noch notwendig digital sind: die klassisch-modernen Massenmedien wie Radio und Fernsehen. Sie geraten durch die Charakterisierung der vorausgehenden Zeit als Buchkultur viel zu stark aus dem Blick.

Taugt Buchkultur dann wenigstens in Bezug auf Bildung als Gegenbegriff zu digitaler Kultur? Hier scheint es sehr viel naheliegender, den Fokus auf das Medium Buch zu legen. Doch auch hier verstellt der Begriff der Buchkultur den klärenden Blick darauf, was es eigentlich ist, das sich beim digitalen Wandel verändert. Sicher haben Bücher in Bildungskontexten einen großen Stellenwert. Auch wenn sich dieser Stellenwert im Zuge des digitalen Wandels verändert hat, so ist die Buchkultur weder verschwunden noch steht ein solches Verschwinden im Fokus dessen, was digitaler Wandel ist. Die Veränderungen der Buchkultur sind eher ein nachfolgender Teilaspekt. Verwendet man ihn als Gegenbegriff zu digitaler Kultur wird der eigentliche Punkt verzerrt.

Was ist dann aber der eigentliche Punkt?

Digitaler Wandel führt nicht weg von einer Buchkultur, sondern weg von einer Kultur, in der kommunikatives Handeln allein auf Oralität, Literalität und Medialität (in ihren jeweiligen, vielfältigen Formen) beruhte. Digitalität hat sich als eine neue, ebenfalls vielfältige Form der Kommunikation zusätzlich etabliert. Nicht eine Buchkultur wird also zurückgelassen, sondern die medialen Beschränkungen der oralen, literalen und weiteren medialen Kommunikation werden durch die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation erweitert.

Diese Verschiebung im kommunikativen Handlungsfeld wirkt auf die bisherigen oralen, literalen und weiteren medialen Kommunikationsformen zurück. Man kann diesen Prozess mit der Entstehung der Schrift vergleichen, die ebenfalls auf die Oralität zurückgewirkt hatte und zu einem tiefgreifenden Kulturwandel führte. Die Veränderungen der Buchkultur sind ein Teil der digitalen Veränderung, nicht aber ihr Gegenpol. Daher kann Buchkultur begrifflich nicht als geeigneter Kontrapunkt zu Digitalität taugen.

Das den Blick verzerrende Reden über den Wandel von der Buch- zur digitalen Kultur hat nachteilige Effekte, die nicht unterschätzt werden sollten. Die Sorge ums vertraute Buch scheint in unserer Gesellschaft eine Angstfixierung auszulösen und zu einem dystopischen Gefühl wie aus Fahrenheit 451 zu führen. Bereits das öffentliche Nachdenken, Verstehenwollen und Akzeptieren von Digitalität wird aus dieser Angst heraus zu einem Glauben an eine digitale Utopie umgedeutet. Wer über Digitalität nachdenkt, wird kurzerhand zum Vertreter eines sogenannten “Digitalismus”.

Björn Nölte hat einmal erzählt, wie sich Besucher einer digitalen Vorzeigeschule darüber gewundert haben, dass es dort überhaupt noch Bücher gibt. Diese Anekdote bestätigt auf traurige Weise, wie tief der Gegenbegriff der Buchkultur den Blick auf Digitalität geprägt und zugleich ein Verstehen verhindert hat. Es ist wichtig, das zu korrigieren.

Daher plädiere ich dafür, den Begriff der Buchkultur als eines Gegenbegriffs zu digitaler Kultur loszulassen und sich stärker auf die Begriffe der Oralität (Mündlichkeit), Literalität (Schriftlichkeit) und Medialität als den sinnvollen Gegenbegriffen oder eher Mitbegriffen zu Digitalität einzulassen. Es wird dabei helfen, die Gewöhnung an die digitale Gegenwart und Zukunft auf begrifflicher Ebene zu fördern.

--

--

Lars Mecklenburg

Entwickler • Reflexionen zu Digitalität und Bildung • Bildungsplattform CodeLab Berlin • Grundschul-App MatheLab Berlin